Ab Artikel 2 GG ist mir das auch alles klar. In etwa so sieht das Grundrecht wohl in allen Rechtsstaaten aus. Auch hier in der Schweiz. Einschränkungen der Grundrechte bedürfen einer gesetzlichen Grundlage und der Kerngehalt der Grundrechte ist unantastbar.
Worin Ihr aber meines Wissens ziemlich einmalig seid ist, dass Ihr mit der Menschenwürde ein ganzes Grundrecht für absolut unantastbar erklärt habt und nicht nur dessen Kerngehalt. Und daher habe ich den starken Verdacht, dass Ihr unter der Menschenwürde eben etwas leicht anderes versteht/verstehen müsst, als der Rest der Welt. Für den Rest der Welt tangiert eine Freiheitsstrafe durchaus die Menschenwürde, würd ich mal behaupten. Und mit dem Verständnis und eurem GG wären somit Freiheitsstrafen unmöglich.
Ich
weiß hoffe zu wissen, worauf du hinaus willst. In Bezug auf die Freiheitsstrafe vs. Menschenwürde, möchte ich nur anführen, dass es doch nicht erwartet werden kann, dass man in letzter Konsequenz straffrei bleiben kann, weil man durch die Unantastbarkeit der Menschenwürde davor geschützt wird.
Wie sollte denn dann ein gesellschaftliches Zusammenleben funktionieren? Selbstjustiz?
Darum hätte mich eben interessiert, wie Ihr Menschenwürde genau definiert. Aber wo immer ich nach Euren Vorstellungen, die Ihr von der Menschenwürde habt, forsche, treffe ich immer nur auf Aussagen, wie sie erlangt wird und nirgendwo auf eine Definition was sie ist. […]
Dass das GG eine klare Vorstellung der Menschenwürde hat und diese definiert, kann doch nicht wirklich Dein Ernst sein, oder? Ich kann in Eurem GG keine Definition der Menschenwürde entdecken. Genau so wenig, wie es bei uns eine Definition des Kerngehalts der Grundrechte gibt. Dieser muss letztlich weitestgehend durch die Gerichtspraxis definiert werden.
Natürlich ist in dem Gesetzestext keine genaue Definition enthalten. Da hast du Recht. Aber das ist ja auch beabsichtigt, würde ich mal so sagen, denn es wird durch Rechtsprechung immer wieder aufs Neue konkretisiert. Es wird ja versucht möglich viel in solch einem Gesetz (Artikel) einzuschließen und je konkreter die Definition wäre, desto stringenter wären eventuelle Sachverhaltsabgleiche.
Die Menschenwürde ist ein Begriff, der durch zweieinhalbtausend Jahre Philosophiegeschichte gegangen ist. In den verschiedenen philosophischen Traditionen hat der Begriff Menschenwürde verschiedene Gestalten.
Wann die Menschenwürde verletzt wird, lässt sich nicht generell definieren, der konkrete Fall ist immer das ausschlaggebende Kriterium.
Zusätzlich muss man sehen, dass sich auch ein Begriff, die Definition der Menschenwürde immer einer ständigen Veränderung gegenüber sieht. Der Begriff, auch für ein BVerfG, hängt ja nun auch von gesellschaftlichen Entwicklungen ab, wie die Gesellschaft es sieht, zumindest jedoch teilweise. Als Stichpunkte gebe ich mal Gleichgeschlechtliche Liebe/Beziehungen, Gleichberechtigung etc.
Das alles ergibt in meinen Augen einen Umstand, dem eine konkrete Definition nie gerecht werden würde.
Die Väter des GG sind bei dem Begriff der Menschenwürde von der "göttlichen Mitgifttheorie", in der Traditon der christlichen Naturrechtslehre ausgegangen.
Zumal der Artikel 1 sozusagen ein "Auffangtatbestand" ist, wenn keine der Grundrechte greifen, aber es offensichtlich ist, dass ein Gesetz, eine staatliche Handlung, ein staatlicher Eingriff (Akt öffentlicher Gewalt) nicht vereinbar ist. Und meiner Meinung nach haben sie diesen Artikel aufgrund der Erkenntnisse und Geschehnisse des 3. Reichs in die Verfassung gegossen. Diese Funktion des "Auffangens" und der Unveränderlichkeit, sind natürlich eine ganz spezielle Ausprägung und mag von einigen oder auch vielen als überflüssig oder übertrieben angesehen werden.
Nur sollte man sich immer den zeitlichen und zeithistorischen Kontext vor Augen führen. Das GG entstand 4 Jahre nach Ende des 2. WK, es war gar nicht abzusehen, welche Richtung die BRD nehmen würde. Und da ging man wohl lieber "auf Nummer sicher".
In diesem Bewusstsein habe ich das Wörtchen "stur" verwendet, das letztlich jetzt diese Diskussion über die Menschenwürde ausgelöst hat. Für mich war das, was Euer Verfassungsgericht getan hat, eine Auslegung des GG. Und es hat IMO eben stur ausgelegt. Euch ist das Wort sauer aufgestossen und Ihr argumentiert, das Gericht könne nicht stur gewesen sein, weil es nicht ausgelegt, sondern festgestellt habe, es würde eine Verletzung der Menschenwürde vorliegen. Bei einer Feststellung kann man nicht stur sein. Entweder ist es so oder es ist nicht so. Richtig? Oder verstehe ich Euch da falsch?
Natürlich legt das BVerfG das/die Gesetz/e aus. Diese Auslegung ist die Prüfung des reellen Sachverhalts an den Strukturen des Gesetzes. Und durch diese Auslegung, unbesehen, wie sie ausfällt, kommt das Gericht dann zur Feststellung, ob der Akt staatlicher Gewalt mit dem GG vereinbar oder eben nicht vereinbar ist. Deswegen kann man doch nicht sagen, dass das BVerfG "stur" (in diesem Fall) ausgelegt hat. Jedenfalls kann ich das so nicht sehen, obschon ich verstehe, worauf du hinaus willst.
Für eine Feststellung, ob etwas zutrifft oder nicht, müsste aber eine eindeutige Definition dessen vorliegen, was zutreffen soll oder eben nicht zutreffen soll. Daher auch mein Bohren nach dieser Definition.
Und ich hab sie nicht erhalten. Und ich bin mir auch ziemlich sicher, ich kann sie nicht erhalten. Keiner von Euch ist in der Lage, diese eindeutige klare Definition zu geben. Auch Euer Verfassungsgericht nicht. Möglich sind immer nur Auslegungen.
Das ist richtig, da gebe ich dir völlig Recht. Es gibt keine konkrete Definition, sie wird es wohl auch nie geben. Aber ich sehe da auch keine Notwendigkeit. Denn Gesetze sind immer auslegungsbedürftig. Das ist ihr Wesen, um möglichst viele mögliche (Fall)Konstellationen umschließen zu können. Sonst würde man sich doch auch nicht mehr zurecht finden können, die Gesetzestexte wären völlig unüberschaubar. Und diese Auslegungstheorie (Hermeneutik) sind ein Grundbestandteil, sie sind das Wesen der Rechtswissenschaft.
Ich denke, dass ich dir da nichts Neues sage.
Und das soll jetzt jetzt in keinerlei Weise als Vorwurf gemeint gewesen sein. Es ist eher so etwas wie Mitleid. (Meine Güte, das hört sich nun vermutlich furchtbar arrogant an. So sollte es eigentlich auch nicht gemeint sein.) Mir scheint, dass da die Geschichte Eure Nation nach wie vor in erschreckendem Masse im Griff hat und eine Denkblockade auf breiter Ebene induziert. Da gibts diesen Begriff der unantastbaren Menschenwürde, auslegungswürdig und nicht eindeutig, aber halt im dunklen Schatten der Geschichte stehend, so dass sich niemand getraut, dort hinzuleuchten und das Ding anzuschauen und genau zu fragen, was es ist. Lieber tun alle so, als wäre es eindeutig und allen ganz klar, was dort im Schatten steht.
Das ist meine Eindruck von Eurer Argumentation hier und von der ganzen Debatte bei Euch in Deutschland. Und es ist vielleicht in der Tat so arrogant, dass ich es besser nicht geschrieben hätte. Ich möchte daher meine Teilnahme an diesem Thread eigentlich mit diesem Beitrag beenden.
Ich empfinde es keinesfalls arrogant oder was auch immer. Ich finde es interessant.
Aber auch finde ich es etwas kurz gedacht, wenn du meinst, dass aus der Angst der Geschichte etwas erwachsen ist, dass in seiner heutigen Form eigentlich keine Legitimation mehr hat. Und ich kann von mir sagen, dass ich die Augen nicht vor den Schatten verschließe. Gerade die neuere (politische) Entwicklung lässt mich sagen, dass ich den Aufbau und die Struktur, die so im GG enthalten ist (speziell Art. 1) für richtig finde und auch noch heute seine Daseinsberechtigung hat. Das mag man möglicherweise anders sehen, darüber können wir diskutieren, aber ich kann nicht annehmen, dass nur aufgrund der Tatsache, dass die "Menschenwürde ausgelegt werden muss", der Artikel dadurch seine Legitimation verliert.